EuGH bestätigt: Gesetze müssen wirklich angewendet werden, zugl. Anmerkung zu EuGH, 17.5.2023 - C‑97/22
1. Hintergrund
Das Widerrufsrecht des Verbrauchers bei Fernabsatzgeschäften i.S.d. § 312c BGB oder bei außerhalb von Geschäftsräumen geschlossenen Verträgen i.S.d. § 312b BGB ist ein scharfes Schwert. Es ist Teil eines besonderen verbraucherschützenden Normenkomplexes, bei dem in der Praxis Vorsicht geboten ist; zahlreiche neuere Entscheidungen haben eine strenge Linie der Gerichte mit dem Umgang der Normen deutlich gemacht.1 Schon zuvor hatte der BGH entschieden, dass es entscheidend darauf ankommt, ob es sich objektiv um einen Verbrauchervertrag handelt, auch wenn dies sich für den Unternehmer anders dargestellt haben mag.2 Wertersatz für die Nutzung ist nicht zu bezahlen, wenn diese notwendig war, um die Ware zu testen.3 Selbst wenn das Widerrufsrecht genutzt wird, um damit nicht bestehende Ansprüche gegenüber dem Unternehmer durchzusetzen, ist von einem Missbrauch nicht auszugehen.4
Schon die Konsequenzen der Ausübung des Widerrufsrechts durch den Verbraucher bei vollständig richtiger Belehrung über das Widerrufsrecht sind für den Unternehmer hart. Bei Kaufverträgen ist für den Wertverlust einer Ware gemäß § 357a Abs. 1 BGB (= § 357 Abs. 7 BGB a.F.) nur Wertersatz zu leisten, wenn der Wertverlust auf einen Umgang mit den Waren zurückzuführen ist, der zur Prüfung der Beschaffenheit, der Eigenschaften und der Funktionsweise der Waren nicht notwendig war und zusätzlich der Verbraucher gesetzeskonform über sein Widerrufsrecht unterrichtet worden ist. Auch bei Dienstleistungen ist der Wertersatz wegen § 357a Abs. 2 BGB (= § 357 Abs. 8 BGB a.F.) zwingend davon abhängig, dass der Verbraucher gesetzeskonform über das ihm zustehende Widerrufsrecht informiert wurde. Die §§ 355 ff. BGB dienen der Umsetzung der Verbraucherrechterichtlinie (VRRL) in ihrer zuletzt durch die Modernisierungsrichtlinie geänderten Fassung, die – abgesehen von ganz wenigen Öffnungsklauseln5 – vollharmonisierend ist (Art. 4 VRRL) und daher grundsätzlich keine Abweichungen von den europarechtlichen Vorgaben zulässt. Darauf weist auch § 361 Abs. 1 BGB hin, wonach über die Vorschriften zum Widerrufsrecht hinaus keine weiteren Ansprüche gegen den Verbraucher infolge des Widerrufs bestehen.6 Das entspricht für die Folgen des Widerrufs und den von einem Verbraucher dann zu erbringenden Leistungen dem ausdrücklichen Willen des europäischen Normgebers in Art. 14 Abs. 5 VRRL.7
In der Vergangenheit hatten nicht einmal Unternehmer, die Verbraucher gesetzeskonform über das Widerrufsrecht informiert hatten, von der Rechtsprechung Milde zu erwarten. Schon gar nicht durften Unternehmer auf Mitleid hoffen, die gar nicht über das Widerrufsrecht belehrten. Sie bekommen für die erbrachten Leistungen seit jeher nichts (und zwar gar nichts). Für sie brachte zumindest die Umsetzung der Verbraucherrechterichtlinie eine Erleichterung mit sich. Das zuvor bestehende unendliche Widerrufsrecht, dem auch nicht die Missbräuchlichkeit der Ausübung nach vielen Jahren des Vertragsschlusses entgegengehalten werden konnte, wurde in § 356 Abs. 3 S. 2 BGB eine zeitliche Grenze von höchstens einem Jahr und 14 Tagen eingeräumt.
Zum 1.1.2018 wurden zudem Besonderheiten zum Verbraucherbauvertrag mit dem „Gesetz zur Reform des Bauvertragsrechts“8 ins BGB eingeführt, die besondere Regelungen zum Widerrufsrecht enthalten. Dies war dem deutschen Gesetzgeber in dem Teilbereich „Bau von neuen Gebäuden“ und „erhebliche Umbaumaßnahmen an bestehenden Gebäuden“ möglich, weil diese von der VRRL ausdrücklich nicht umfasst sind (Art. 3 Abs. 3 lit. f VRRL; Bereichsausnahme daher in § 312 Abs. 2 Nr. 3 BGB). Eingeführt wurden die Vorschriften zum Verbraucherbauvertrag in den §§ 650i ff. BGB, die in § 650l BGB ausdrücklich ein Widerrufsrecht des Verbrauchers vorsehen, das nach § 356e BGB erst beginnt, wenn der Verbraucher gemäß Artikel 249 § 3 EGBGB über sein Widerrufsrecht belehrt wurde, aber höchstens ein Jahr und 14 Tage beträgt. Ist im Falle des fristgerechten Widerrufs die Rückgewähr der bis zum Widerruf erbrachten Leistung ihrer Natur nach ausgeschlossen, schuldet der Verbraucher dem Unternehmer nach § 357e BGB Wertersatz; anders als bei den sonstigen Verbraucherverträgen hängt der Wertersatzanspruch ausweislich des Wortlauts der Norm nicht von einer ordnungsgemäßen Belehrung über das Widerrufsrechts ab.9 Der Begriff des „Verbraucherbauvertrags“ ist eng auszulegen, es bedarf entweder eines Neubaus oder aber Arbeiten an einem bestehenden Gebäude, die einem Neubau gleich kommen, es müssen also mehrere Gewerke in Auftrag gegeben worden sein.10 Dies entspricht der einhelligen Meinung.
Angesichts dieser seit Jahren bestehenden eindeutigen Rechtslage mochte die Vorlagefrage des LG Essen11 an den EuGH überraschen. Sie lautete: „Ist Art. 14 Abs. 5 der Richtlinie 2011/83 dahin auszulegen, dass er in dem Fall, dass der Besteller seine auf den Abschluss eines Bauvertrages, der außerhalb von Geschäftsräumen geschlossen worden ist, gerichtete Willenserklärung erst widerruft, nachdem der Unternehmer seine Leistungen bereits (vollständig) erbracht hat, jegliche Wertersatz- oder Ausgleichsansprüche des Unternehmers auch dann ausschließt, wenn die Voraussetzungen eines Wertersatzanspruchs nach den Vorschriften über die Rechtsfolgen des Widerrufs zwar nicht vorliegen, der Besteller aber durch die Bauleistungen des Unternehmers einen Vermögenszuwachs erhalten hat, d. h. bereichert ist?“ Kurz zusammengefasst könnte man auch formulieren: Soll das, was da im Gesetz steht, wirklich gelten?
2. Die Entscheidung des EuGH
Der Vorlagefrage des LG Essen12 lag folgender Sachverhalt zugrunde: Ein Verbraucher hatte im Oktober 2020 mündlich mit einem Unternehmer einen Vertrag über die Erneuerung der Elektroinstallation seines Hauses abgeschlossen, es lag unstreitig ein außerhalb von Geschäftsräumen geschlossener Vertrag vor. Über das dem Verbraucher zustehende Widerrufsrecht belehrte der Unternehmer ihn nicht. Die Arbeiten wurden vollständig abgeschlossen und in Rechnung gestellt, vom Verbraucher aber nicht bezahlt. Daraufhin trat der Unternehmer die Forderung an einen Dritten (den jetzigen Kläger) ab, worauf der beklagte Verbraucher den Widerruf seiner Vertragserklärung im März 2021 erklärte. Der Zessionar macht nun die Forderung gerichtlich geltend.
Das LG Essen setzte das Verfahren aus und legte dem EuGH die oben genannte Frage zur Vorabentscheidung vor. Es hielt die Auslegung von Art. 14 Abs. 5 VRRL für entscheidungserheblich, wonach – sofern in Art. 13 Abs. 2 VRRL und in Art. 14 VRRL nichts anderes vorgesehen sei – der Verbraucher aufgrund der Ausübung seines Widerrufsrechts nicht in Anspruch genommen werden könne. Das LG Essen wollte wissen, ob dies auch dann gilt, wenn der Verbraucher sein Widerrufsrecht erst nach Erfüllung eines außerhalb von Geschäftsräumen geschlossenen Vertrags ausgeübt und damit unter Verletzung des vom EuGH als allgemeinen Grundsatz des Unionsrechts anerkannten Verbots ungerechtfertigter Bereicherung einen Vermögenszuwachs erlangt hat. Dies geschah wohl vor dem Hintergrund, dass sich der Kläger auf Erwägungsgrund 57 der VRRL berufen hatte, wonach die Mitgliedstaaten Sanktionen für Verstöße gegen diese Richtlinie festlegen und für deren Durchsetzung sorgen, wobei die Sanktionen wirksam, verhältnismäßig und abschreckend sein sollen. Diese Sanktion sei unverhältnismäßig.
Der EuGH stellte zunächst fest, dass der Vertrag über die Erneuerung der Elektroinstallation ein Dienstvertrag im Sinne von Art. 2 Nr. 6 VRRL einzustufen sei.13 Der Rest der Begründung fällt bemerkenswert knapp aus, was die Eindeutigkeit der Rechtslage unterstreicht. Ausweislich des eindeutigen Wortlauts von Art. 14 Abs. 5 VRRL müsse ein Verbraucher nach erfolgtem Widerruf nur dann etwas bezahlen, wenn in Art. 13 Abs. 2 VRRL (zusätzliche Rückversandkosten) und in Art. 14 VRRL nichts anderes vorgesehen sei. Art. 14 Abs. 4 a) lit i) VRRL stelle ausdrücklich klar, dass ein Verbraucher für eine Dienstleistung keinen Wertersatz zu leisten habe, wenn er nicht über sein Widerrufsrecht i.S.d. Art. 6 Abs. 1 lit h) VRRL belehrt wurde, dies sei eine ausdrückliche Ausnahme für die grundsätzlich geschuldete Wertersatzpflicht in Art. 14 Abs. 3 VRRL.14 Die vorvertragliche Information über dieses Widerrufsrecht sei für den Verbraucher von grundlegender Bedeutung und erlaube ihm, die Entscheidung, ob er diesen Vertrag abschließen soll oder nicht, in Kenntnis der Sachlage zu treffen.15 Ziel der VRRL sei die Vollharmonisierung der verbraucherschützenden Vorschriften; ließe man zu, dass entgegen des ausdrücklichen Wortlauts der VRRL nun doch Kosten entstehen, gerate dieses Ziel in Gefahr.16 Beachtlich ist, dass der EuGH (ohne erkennbare Not) ausdrücklich auf eine Regressmöglichkeit des Zessionars gegenüber dem Zedenten hingewiesen hat.17
III. Einordnung der Entscheidung
Ich finde es grundsätzlich richtig, wenn Rechtsfragen nicht immer den ganzen Instanzenzug gehen müssen, um dann vom BGH dem EuGH vorgelegt werden müssen. Denn einige Rechtsfragen drängen und die Ungewissheit kostet – im Zweifel die Unternehmen – viel Geld. Des Verfahrens hier hätte es nicht bedurft. Die Antwort auf die Frage des LG Essen findet sich ausdrücklich und übereinstimmend sowohl im deutschen Recht als auch in der VRRL, entspricht dem unzweideutigen Willen des europäischen Normgebers und dem vom EuGH seit Jahren gebetsmühlenartig betonten hohen Verbraucherschutzniveau. Dass das Verhalten des Verbrauchers im vorliegenden Fall nicht die feine englische Art gewesen sein mag, muss hier nicht beurteilt werden. Auch ein gewisses Unbehagen des Gerichts, die Klage angesichts der vollständig (und offenbar mangelfrei) erbrachten Leistung abzuweisen, ist durchaus nachzuvollziehen. Wenn es aber ein Unternehmer auch so viele Jahre nach Inkrafttreten der besonderen verbraucherschützenden Regelungen nicht schafft, eine ordnungsgemäße Widerrufsbelehrung zur Verfügung zu stellen, bedarf es keines Mitleids und die Rechtslage ist nun einmal eindeutig. Auch der Verweis auf Erwägungsgrund 57 geht an der Sache vorbei. Es geht in der Sache nicht um eine Sanktion der Mitgliedsstaaten, sondern um eine Sanktion, die sich unmittelbar aus der VRRL selbst ergibt und zwar vollharmonisierend.
Den Bedenken des LG Essen wird auch nicht mit den nationalen Regelungen zum Verbraucherbauvertrag (§ 650i ff. BGB) abgeholfen. Nach der jüngsten Entscheidung des BGH dazu ist klar, dass einzelne Gewerke den Voraussetzungen eines Verbraucherbauvertrags nicht genügen.18
Es verbleibt etwas Verwunderung über das Verfahren und die bereits bekannte Erkenntnis, dass Handwerker bei Verbraucherverträgen über das bestehende Widerrufsrecht informieren müssen und zwar unabhängig davon, ob es sich um einen Werkvertrag oder einen Verbraucherbauvertrag handelt. Ansonsten bekommen sie für ihre erbrachten Leistungen eben nichts.
1 Vgl. nur jüngst BGH, 01.12.2022 – I ZR 28/22, WRP 2023, 601 ff. (Musterwiderrufsbelehrung); BGH, 20.10.2021 – I ZR 96/20, WRP 2022, 54 ff. (Kurventreppenlift), BGH, 24.09.2020 – I ZR 169/17, WRP 2021, 192 ff. (Telefonnummer); OLG Nürnberg, 23.08.2022 – 3 U 81/22, MDR 2022, 1479 ff. (kein Verzicht auf Widerrufsrecht), OLG Frankfurt a. M., 28.10.2021 – 6 U 275/19, MMR 2022, 403 ff. (Erlöschen des Widerrufsrechts).
2 BGH, 30.09.2009 – VIII ZR 7/09, K&R 2010, 37 ff.
3 BGH, 03.11.2010 – VIII ZR 337/09, K&R 2011, 38 ff. (Wasserbett); BGH, 12.10.2016 – VIII ZR 55/15, K&R 2017, 52 ff. (Katalysator).
4 BGH, 16.3.2016 – VIII ZR 146/15, K&R 2016, 417 ff. (Matratze); BGH, 12.07.2016 – XI ZR 564/15, VuR 2017, 100 ff. (Verbraucherdarlehensvertrag).
5 Art. 3 Abs. 4; Art. 5 Abs. 3, Abs. 4; Art. 6 Abs. 8; Art. 6a Abs. 2; Art. 7 Abs. 4 Unterabs. 2; Art. 8 Abs. 6; Art. 9 Abs. 1a, Abs. 3; Art. 16 Abs. 2 f. VRRL.
6 Fritsche, in: MüKoBGB, 9. A., 2022, § 361 Rn. 2, 3; Fries/Schulze, in: HK-BGB, 11. A., 2021, BGB § 361 Rn. 1.
7 RegE, BT-Drs. 14/2658, 45.
8 BGBl. 2017, Teil I Nr. 23, S. 969 ff.
9 Vgl. auch Lenkeit BauR 2017, 454, 467; Pause BauR 2017, 430, 436.
10 BGH, 16.03.2023 – VII ZR 94/22, NZBau 2023, 375; KG, 16.11.2021 – 21 U 41/21, BauR 2022, 656.
11 LG Essen, 27.12.2021 – 17 O 85/21.
12 LG Essen, 27.12.2021 – 17 O 85/21.
13 EuGH, 17.5.2023 - C‑97/22, Rn. 22.
14 EuGH, 17.5.2023 - C‑97/22, Rn. 25.
15 EuGH, 17.5.2023 - C‑97/22, Rn. 26.
16 EuGH, 17.5.2023 - C‑97/22, Rn. 31 f.
17 EuGH, 17.5.2023 - C‑97/22, Rn. 33; mit Verweis auf EuGH, 17.10.2019, C‑579/18, Comida paralela 12, Rn. 44.
18 BGH, 16.03.2023 – VII ZR 94/22, NZBau 2023, 375.