Die Rechtsprechung tut sich mit der Frage, ob eine lauterkeitsrechtliche Abmahnung missbräuchlich ist, schwer (BGH, 31.5.2012 – I ZR 45/11, WRP 2012, 1086). Das ist durchaus nachvollziehbar und auch richtig. Einzig der Gesetzgeber scheint der Auffassung zu sein, dass die Frage des Rechtsmissbrauchs mit wenigen Zeilen im Gesetz eine Regelung finden könnte (BT-Drs. 19/12084). Das ist selbstverständlich nicht der Fall. Wer (berechtigt) abgemahnt wird, hat zunächst ein unlauteres, rechtswidriges Verhalten an den Tag gelegt. Die erste Frage muss lauten, warum dieses Verhalten geduldet werden soll. Denn wenn man dem Abmahnenden mit dem Verweis auf Rechtsmissbrauch die Befugnis nimmt, die Unterlassung dieses rechtswidrigen Verhaltens zu verfolgen, begibt man sich unweigerlich in eine Abwägung der beteiligten Interessen. Neben den Parteien der Abmahnung steht dort noch die Allgemeinheit, die in § 1 Abs. 1 S. 2 UWG ausdrücklich geschützt wird. Gelangt man im Rahmen dieser Abmahnung zu dem Ergebnis, dass sie rechtsmissbräuchlich war, so bedeutet dies unweigerlich, dass der Unwertgehalt der Abmahnung höher einzustufen ist als das an den Tag gelegte rechtswidrige Verhalten des Abgemahnten.
Die Rechtsprechung im Lauterkeitsrecht stützt sich bei der Suche nach dem Rechtsmissbrauch weiter auf einzelne Indizien (BGH, 26.4.2018 – I ZR 248/16, WRP 2019, 180; BGH, 5.10.2000 – I ZR 237/98, WRP 2001, 148). Der Gesetzgeber hat diese in der Rechtsprechung entwickelten Indizien überwiegend in § 8c Abs. 2 UWG kodifiziert.
In der Sache „Vielfachabmahner II“ hatte sich der BGH (Urt. v. 7.3.2024 – I ZR 83/23, WRP 2024, 701) vordergründig lediglich mit einer Vertragsstrafenforderung zu befassen, inzident jedoch mit einer großen Zahl von Abmahnungen und deren großteils unterbliebener gerichtlicher Durchsetzung.
Zusammenfassung
Gegenstand des Verfahrens war eine Vertragsstrafe, die der Unterlassungsgläubiger – ein eingetragener Interessenverband von Online-Unternehmen – vom Unterlassungsschuldner forderte, nachdem dieser eine Unterlassungserklärung abgegeben hatte und dann gegen diese verstieß. Das OLG Hamm (Urt. v. 30.5.2023 – 4 U 78/22, WRP 2023, 998) hatte die Klage abgewiesen, da die Unterlassungsvereinbarung infolge einer missbräuchlichen Abmahnung geschlossen worden sei (Rn. 42). Es stützte seine Entscheidung dabei im Wesentlichen darauf, dass der Kläger eine große Zahl von Abmahnungen ausgesprochen, jedoch bei Ausbleiben einer Unterwerfung keine gerichtliche Klärung herbeigeführt habe. So habe der Verband u.a. im Jahr 2020 3520 Abmahnungen ausgesprochen, lediglich 1325 Unterlassungserklärungen seien abgegeben und rund 528 Fälle gerichtlich verfolgt worden (Rn. 23). Damit seien 1667 Fälle nicht weiterverfolgt worden (Rn. 23).
Der BGH hob das Urteil auf und verwies die Sache zurück. Die Anzahl von Abmahnungen für sich genommen sei noch kein hinreichendes Indiz (Urt. v. 7.3.2024 – I ZR 83/23, WRP 2024, 701, Rn. 19). Ohne Hinzutreten weiterer Indizien könne ein rechtsmissbräuchliches Abmahnverhalten regelmäßig nicht allein deshalb angenommen werden, weil der Gläubiger die geltend gemachten Unterlassungsansprüche in einer Vielzahl von Fällen trotz ausgebliebener Unterwerfungserklärungen nicht gerichtlich weiterverfolge (Rn. 19). Nach dem Vorbringen des Klägers hätten sich die nicht weiter verfolgten Abmahnungen auf unterschiedliche Weise erledigt, so durch (1) Geschäftsaufgabe, (2) Tod, (3) Wechsel des Inhabers, (4) Unzustellbarkeit, (5) dauerhafte Abschaltung von Webseiten, (6) Wechsel des Warensortiments, (7) Insolvenz, (8) soziale Aspekte, (9) nicht aufklärbare aber nach Antwort auf die Abmahnung transparent werdende Umstände, (10) in anderen Verfahren geklärte Rechtsfragen und (11) Anerkenntnisse ohne förmliche Unterwerfung bei kompletter Überarbeitung von Webseiten mit anwaltlicher Hilfe. Das OLG habe die Umstände dazu nicht hinreichend aufgeklärt (Rn. 20). So sei auch das Berufen auf “Musterverfahren“ nicht per se ein Indiz für Rechtsmissbrauch, wenn die anderen Verfahren nach einem Ausgang zugunsten des Abmahnenden weiterverfolgt würden (Rn. 23). Wenn Ansprüche gegen Schuldner im Ausland nicht weiterverfolgt würden, spreche dies sogar gegen die erhoffte Einnahmenerzielung. Gleiches gelte für die unterbliebene Weiterverfolgung von Ansprüchen aus sozialen Gründen (Rn. 23). Bei Unzustellbarkeit von Schriftstücken und bei Insolvenz würden bei der Nichtverfolgung Kosten gespart, es müsse folglich abgewogen werden, ob die Vermeidung von Kostenrisiken so bestimmend in den Vordergrund trete, dass der angebliche Vereinszweck als vorgeschobenes Mittel zur Verwirklichung der Einnahmeerzielung angesehen werden müsse (Rn. 27). Eine Bewertung der gestellten 18 Ordnungsmittelanträge habe das OLG nicht vorgenommen (Rn. 28). Zudem fehlten Feststellungen, ob eine ins Gewicht fallende Zahl von Fällen, in denen der Kläger Abmahnungen ausgesprochen hat, wettbewerbsrechtlich nicht eindeutig zu beurteilen waren, und einer gerichtlichen Klärung daher bedurft hätten (Rn. 30). Weiter seien Indizien nicht berücksichtigt worden, wie zum Beispiel das systematische Nichtvorgehen gegen Mitglieder des Verbands, vorformulierte Unterlassungserklärungen, die deutlich zu weit gefasst waren, und die suggerierte Zusammengehörigkeit von vorformulierter Unterlassungserklärung und Anerkenntnis der Kostenerstattungspflicht (Rn. 32-37).
Praxisfolgen
Aus den Ausführungen des BGH mag man schon fast eine gewisse Verzweiflung herauslesen – es scheint offensichtlich, dass der BGH vom Rechtsmissbrauch überzeugt ist, einzig die ihm vorgelegten Tatsachen genügen ihm nicht. Die Entscheidung gibt ganz gezielte Hinweise, worauf bei der Urteilsfindung zu achten ist. Gerade vor dem Hintergrund des Schutzes der Allgemeinheit muss sorgfältig und in jedem Detail vorgegangen werden. Der Strauß an Indizien, zu dem die Menge an ausgesprochenen Abmahnungen und das Verhältnis der dazu gerichtlich geltend gemachten Ansprüche gehört, wird so eine Ebene tiefer erneut um Indizien aufgeschlüsselt, die im Einzelfall zu beachten sind, nämlich die Frage, warum Ansprüche nicht gerichtlich geltend gemacht wurden. Das war erwartbar und reiht sich in die Entscheidungen des BGH zum Rechtsmissbrauch nahtlos ein (z.B. BGH, 15.12.2011 – I ZR 174/10, WRP 2012, 930).
Die eigentlich spannende Frage ist und bleibt, wer wann was zu beweisen hat; sie wird leider nicht mit der gleichen Deutlichkeit beantwortet und wird in der Praxis das größte Problem bleiben. Wann endet die Beweislast des Abgemahnten, dass Rechtsmissbrauch gegeben ist, wo beginnt die Amtsermittlungspflicht und welche Umstände muss der Abmahner erklären, die in seiner Sphäre liegen und die außer ihm niemand wissen kann?
Zuletzt gibt es eine spannende Entwicklung in der Entscheidung. Rückt der BGH möglicherweise davon ab, dass nur eine strafbewehrte Unterlassungserklärung die Wiederholungsgefahr außergerichtlich beseitigen kann?